„Mobile First“ und Entbürokratisierung sind die Paradigmen des Bewerbungsprozesses der Zukunft.
Gemeinsam mit der FH St. Pölten ließ das interactive advertising bureau austria als größte Interessenvertretung der Digitalwirtschaft den Donnerstagabend beim virtuellen After-Work ausklingen, um neue Konzepte im „War For Talents“ zu diskutieren.
„Ausbildung ist eine stark gefragte Investition. Der Digitalisierungsschub der letzten Monate hat in diesem Bereich auch Defizite und einen hohen Ausbildungsbedarf zu Tage gebracht“, leitet Sabrina Oswald (Futura) in die Diskussion ein und ergänzt: „Die klassischen Karriere- und Organisationsmodelle haben sich drastisch verändert.“
Harald Rametsteiner leitet den Masterlehrgang Digital Marketing an der FH St. Pölten, der in Zusammenarbeit mit dem iab austria entwickelt wurde, und im bevorstehenden Wintersemester einen Rekordandrang an Studierenden verzeichnet.
Nina Saurer (Talentor Austria) ist überzeugt, dass der digitalisierte Bewerbungsprozess große Vorteile für Unternehmen und Bewerber bringt. Gregor Weihs (TalentShark Recruitment) weiß, dass die besten potenziellen Mitarbeiter meist nicht auf Jobsuche sind, sondern aktiv gesucht und gefunden werden müssen. Thomas Ilk (Bacon & Bold) bezeichnet Recruiting als den „neuen Vertrieb“, der künftig an HR-Abteilungen neue Anforderungen stellen wird. Eugen Schmidt (AboutMedia) ortet einen hohen Bedarf nach neuen Kompetenzen, um digitale Teams zu führen und die Kollaboration der Zukunft zu gestalten.
Entbürokratisierung des Bewerbungsprozesses: Top-Manager wollen kein Maturazeugnis mehr hochladen
Die Kandidatensuche der Zukunft baut nicht mehr auf das bewährte Duo aus Headhunter und Jobinserat. Ilk sieht die Notwendigkeit vieler Touchpoints in der Candidate Journey, um potenzielle Talente schon lange vor ihrem tatsächlichen Veränderungswunsch zu erreichen. Bewerbungsprozesse werden einfacher und weniger bürokratisch werden müssen, um die bestqualifizierten Kandidaten nicht schon am Weg zum Bewerbungsgespräch zu verlieren. Ähnlich urteilt Weihs, da hochqualifizierte Arbeitnehmer sich die Jobs aussuchen können und abgeworben werden. Eine große Lücke sieht Saurer bei langen Kündigungsfristen im Zeitraum zwischen Vertragsunterzeichnung und Onboarding, die sich oft über mehrere Monate erstreckt. Dem Nutzungsverhalten der User folgend, muss auch im Bewerbungsprozess „Mobile First“ gelten. Schmidt setzt dementsprechend auf laufendes Employer Branding mit Mobile-Fokus, um den Kontakt mit geeigneten Talenten aufzubauen, schon bevor AboutMedia aktiv Mitarbeiter sucht. Martin Lenz (Jobiqo) befürwortet selbstlernende Matching-Tools auf Basis von künstlicher Intelligenz, um Bewerbungsprozesse effizienter zu gestalten. Weihs sieht Tools als wesentliche Entscheidungshilfe – die Letztentscheidung müsse aber von Menschen getroffen werden, um Soft Skills und Emotionen zu beurteilen.
Aktive und passive Kandidaten: Wird man angerufen oder will man anrufen?
Jobinserate bringen häufig mehr Quantität als Qualität im Gegensatz zu passiven Kandidaten, die durch Headhunter angesprochen werden. Weihs rät zu einem Mix aus unterschiedlichen Recruitingformen, um geeignete Kandidaten zu finden. Den Nachteil an passiven Kandidaten sieht Lenz in der kürzeren Verweildauer im Unternehmen, weil bei der Abwerbung meist hohe Versprechen gegeben werden, die der Realität nicht immer Stand halten. Aktive Kandidaten gehen mit einem anderen Mindset an ihre künftige Aufgabe heran. Active Sourcing über LinkedIn sieht Ilk als Auslaufmodell, weil gefragte Kandidaten zu viele undifferenzierte Angebote bekommen.
„Wir scheuen latent Suchende, weil sie ihr Verhalten nicht ändern werden und weiter suchen. Attraktiv sind Menschen, die in ihrem Umfeld zufrieden sind und sich langfristig binden wollen. Die Top-Kandidatinnen und -Kandidaten haben wir auf allen Kanälen laufend im Blick und präsentieren uns zwischen qualitativ hochwertigen Digitalmedien und LinkedIn als attraktiver Arbeitgeber“, führt Schmidt aus.
Social Media spielt eine untergeordnete Rolle
Soziale Medien bieten Firmen die Möglichkeit, sich bei zukünftigen Mitarbeitern zu bewerben und Leads zu generieren. Für Saurer erleichtern Plattformen wie LinkedIn oder Xing den Weg zur richtigen Besetzung zwar, ersetzen aber trotzdem nicht die Branchenkenntnis und das menschliche Wissen. Zudem sind nicht alle Menschen mit Profilen vertreten, woraus sich nur ein eingeschränktes Bild ergibt. Die Präsenz der Kandidaten ist von Branche zu Branche sehr unterschiedlich. Schmidt empfiehlt Umfeldplatzierungen in Qualitätsmedien, wo Talente im relevanten redaktionellen Bereich erreicht werden. Bewertungsportale wie Kununu drehen den Spieß um und erfordern von den Arbeitgebern Fingerspitzengefühl im Umgang mit Kritik.
„Die Wahl des Kanals entscheidet über die Qualität der Bewerbung. Instagram ist mit einer Bewerbung per E-Mail nicht zu vergleichen“, berichtet Schmidt aus der Praxis.
Der „Talent Pool“, den Arbeitgeber aufbauen, ist nicht aussagekräftig und häufig ein digitaler Friedhof für Karteileichen. Saurer unterscheidet zwischen reinen Kandidaten und Talenten, die sich als Persönlichkeiten durch ihr Mindset und ihre Softskills auszeichnen und damit das entscheidende Mehr als die fachliche Qualifikation einbringen. Statt einer Datensammlung empfiehlt es sich beispielsweise durch Newsletter und Digitalmarketing laufend Touchpoints zu schaffen.
Weihs und Saurer verorten einen Trend, Kandidaten in Form von Probetagen und mehrstufigen Assessments besser kennen zu lernen und mehr in die Selektion zu investieren, um das Risiko für Fehlbesetzungen zu minimieren. Auch Lenz lässt Bewerber kleine Aufgaben lösen, um die Herangehensweise zu beobachten.
„Trotz aller Tools und Analysen, kommt es immer auch auf das Bauchgefühl an“, relativiert Headhunterin Saurer die digitalen Möglichkeiten.
Den Talk zum Nachsehen gibt es hier: